Offener Brief von Albrecht MÃŒller
„Lass die Geschichte anders enden“
Der Kanzler hÀlt an seinem Kurs fest. Hier schreibt ihm Albrecht MÌller, Ex-Berater von Willy Brandt und Helmut Schmidt, dass er das fÌr falsch hÀlt:
Quelle: http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/23.08.2004/1311349.asp
Reformen waren in der sozialdemokratischen Geschichte immer VerÀnderungen zu Gunsten der groÃen Mehrheit der Menschen, vor allem der Arbeitnehmer. Der Begriff war mit Hoffnung verbunden. Heute löst er Ãngste aus. Sein guter Klang wird missbraucht. Zehntausende demonstrieren auch heute wieder gegen diese Art von Reformen. Das macht mich zutiefst betroffen. Denn fÃŒr unsere gemeinsame Partei und fÃŒr den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt habe ich einmal den Satz formuliert: „Wer morgen sicher leben will, muss heute fÃŒr Reformen kÀmpfen.“ Aus Ãberzeugung habe ich mein Leben lang dafÃŒr gearbeitet, dass reformiert wird, wo es notwendig ist. Heute muss ich mich mit einem Offenen Brief an Dich und mit einem Buch an die Ãffentlichkeit wenden, um vor der Nutzlosigkeit und den negativen Folgen dessen zu warnen, was man heute Reformen nennt.
Die meisten Reformen wenden sich heute gegen die Mehrheit und vor allem gegen die SchwÀcheren in unserer Gesellschaft. Sie beschÀdigen ein zentrales Versprechen unseres Grundgesetzes und zugleich eine groÃe kulturelle Errungenschaft: die Sozialstaatlichkeit unseres Landes. Aber was noch wichtiger ist: Die Reformen lösen unser dringendstes Problem, den Menschen Arbeit und den Unternehmen AuftrÀge zu verschaffen, nicht. Im Gegenteil, sie verschÀrfen die Probleme noch. Das fÀngt schon damit an, dass die Reformer unser Land und seine Zukunft in schwarzen Farben malen mÃŒssen, um die von ihnen gewÃŒnschten Strukturreformen als zwingend erscheinen zu lassen. So reden sie seit Jahren das Land in den Keller. Das ist das allerletzte, was unsere Volkswirtschaft jetzt gebrauchen kann.
Das ewige Reden Ìber den Reformstau und die stÀndigen VerÀnderungen mit ihrem Rattenschwanz von BÌrokratie, Unruhe und Frust sind tödlich fÌr die so wichtige Verbesserung der Wirtschaftsstimmung. Allein schon deshalb rate ich dringend, in der jetzigen heiklen wirtschaftlichen Lage die Reformpolitik hintanzustellen. Lasst sie auslaufen und konzentriert euch auf den Kern unseres Problems: die Belebung von Wirtschaft und Konjunktur. Seit Jahren wird die Zeit und Kraft der politisch Verantwortlichen von den Reformen absorbiert. Absurd. Ihr brÀuchtet alle Kraft, um zum Beispiel in BrÌssel dafÌr zu kÀmpfen, dass Europa endlich begreift: Die besonders schlechte Entwicklung in den meisten europÀischen LÀndern hat nichts mit einem behaupteten Reformstau und viel mit der permanenten prozyklischen Bremserei von Zentralbank und Finanzpolitik zu tun. Warum soll Europa nicht so schlau sein wie die USA, die in wirtschaftlich kritischen Zeiten immer auf Expansion umgeschaltet und den Konsum und damit auch die Investitionen angeheizt haben?
Seit ÃŒber zehn Jahren, seit 1993, wird unsere Volkswirtschaft unter ihren KapazitÀten gefahren, nachdem der letzte Boom mit Wachstumsraten von 3,7, 3,9, 5,7 und 5,1 Prozent zu Kohls Zeiten 1992 mutwillig abgebrochen wurde. Die Bundesbank erhöhte damals den Diskontsatz schrittweise von 2,9 auf 8,75 Prozent. Ein Wahnsinn mit Folgen. Seit dem dÃŒmpeln wir mit niedrigen – und negativen – Wachstumsraten dahin.
Die Unterauslastung unserer Volkswirtschaft ist unser Kernproblem. Jedes Jahr gehen uns so etwa 150 Milliarden Euro verloren, die die Menschen fÌr ihren Lebensunterhalt und auch der Staat fÌr die Finanzierung seiner Aufgaben, der deutschen Einheit und der sozialen Sicherungssysteme dringend gebraucht hÀtten und brauchen wÌrden.
Als ich im April hörte, Du wolltest den WÃŒrzburger Volkswirtschaftsprofessor Peter Bofinger zum BundesbankprÀsidenten machen, da dachte ich: Bravo, der Bundeskanzler hat’s verstanden! Jetzt setzt er mit dem auf Ankurbelung der Wirtschaft drÀngenden Wissenschaftler ein Gegengewicht gegen die Vorherrschaft der neoliberalen Mafia. Bofinger hÀtte hier im Land und als deutscher Vertreter in der EuropÀischen Zentralbank wichtige neue Akzente zur Belebung der europÀischen Volkswirtschaften setzen können. Warum in aller Welt hast Du diese Chance nicht genutzt und Dich dem Widerspruch von Hans Eichel gebeugt?
Die so genannten Reformer sind Gift fÃŒr das, was zuallererst notwendig ist: die Verbesserung der wirtschaftlichen Stimmung, die Ermutigung zu Konsum und Investition. Jeder kann es doch sehen, wenn er durch die InnenstÀdte geht. Wir sind heute weit hinter die Einsichten eines Ludwig Erhard, eines Karl Schiller und Franz Josef Strauà zurÃŒckgefallen. Die wussten noch – wie ÃŒbrigens fast alle groÃen Ãkonomen von Smith ÃŒber Keynes bis Schumpeter oder Stiglitz –, dass Wirtschaftspolitik zur HÀlfte Psychologie ist. Sie haben der Wirtschaft und den Konsumenten Mut gemacht. Die Richtung stimmt, haben sie propagiert. Die Pferde mÃŒssen wieder saufen. Das ist heute genauso richtig wie damals. Ich kenne den Einwand. Heute sei alles anders, alles neu. Das ist die am weitesten verbreitete und zugleich die dÃŒmmste LÃŒge, die ich kenne.
Es brodelt im Land. Viele sind betroffen oder fÃŒrchten betroffen zu werden. Manche demonstrieren und protestieren gegen die Reformpolitik, andere resignieren und wenden sich von der Politik ab. Das kann uns doch nicht kalt lassen.
Die tonangebenden MeinungsfÌhrer unter unseren Eliten sehen das ganz anders. Sie raten, den Reformkurs ohne ZugestÀndnisse an die Sorgen der Arbeitnehmer und Rentner durchzuhalten. Ich kann mir gut vorstellen, was manche Deiner Berater da so an Empfehlungen aufschreiben: HÀrte zeigen, Durchsetzungswillen und StÀrke demonstrieren, Blut, Schweià und TrÀnen predigen. Das sind die zynischen Rezepte einer wohlversorgten und abgehobenen Elite.
Die Mehrheit der tonangebenden KrÀfte in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und in den Medien hast Du hinter Dir. MÀchtige Meinungsmacher wollen noch mehr Reformen. Sie nennen Dich einen Zauderer und Mann der verpassten Reformchancen. Es gebe noch immer einen Reformstau in Deutschland, behaupten sie, und fragen „Rafft sich Schröder zu einem neuen Anlauf auf?“
Ich finde diese Einlassungen sehr interessant. Die Modernisierer merken, dass die versprochenen Erfolge ausbleiben, und versuchen kurzerhand, dem Bundeskanzler, dem angeblichen Zauderer, die Schuld zuzuschieben. Sie sind wie DrogenabhÀngige. Wenn die Droge nicht wirkt, dann verlangen sie die Erhöhung der Dosis und stÀrkere Drogen. Wenn Du ihrem DrÀngen folgst, dann wird die SPD ihren Ruf als Partei der sozialen Gerechtigkeit endgÌltig verlieren. Die SPD hÀlt keine neue sinnlose Reformrunde aus. Und unsere Gesellschaft auch nicht, und unserer Wirtschaft hilft es schon gar nicht.
Gegen die Reformpolitik wird meist eingewandt, sie sei sozial unausgewogen, ungerecht und sie schwÀche den solidarischen Zusammenhalt. Diese Kritik halte ich fÃŒr berechtigt. Aber viel gravierender ist die Unwirksamkeit der Reformen. Ich kann nicht verstehen, wie man in Berlin glauben kann, man stehe jetzt halt vor einer Durststrecke, und mÃŒsse nur warten, bis die Reformen ihre Wirkung entfalten. Seit Kohls Zeiten wird hier zu Lande „reformiert“, ohne dass diese Reformen einen erkennbaren Erfolg hatten und haben. Schon die Behauptung, wir hÀtten einen Reformstau und das sei unser Hauptproblem, ist eine Legende.
Die Steuern wurden gesenkt, die Vermögens- und Gewerbekapitalsteuer gestrichen, Kapitalbesitzern wurden die Steuer fÌr UnternehmensteilverkÀufe erlassen, der Einkommenssteuersatz wurde krÀftig gesenkt. Deutschland hat innerhalb der bisherigen EU mit 23,1 Prozent die zweitniedrigste Steuerquote. Hat das wie versprochen die InvestitionstÀtigkeit oder den Konsum angeheizt?
Die Ladenschlusszeiten wurden reformiert, die Greencard eingefÌhrt, die Ich-AG und die PSA, die Personal-ServiceAgenturen, eingefÌhrt, die Bundesanstalt fÌr Arbeit wurde auf den Kopf gestellt. Was hat das gebracht? Wo bleiben die zwei Millionen von Hartz versprochenen neuen ArbeitsplÀtze? Man hÀtte vorher wissen können, dass dies nicht funktioniert. Denn wie sollen aus diesen Reformen ArbeitsplÀtze folgen? Wie soll das konkret gehen?
Das gilt auch fÃŒr das heià diskutierte Thema Hartz IV. Wirtschaftsminister Clement verbindet damit seine Zukunft und er meint, „die Trendumkehr auf dem Arbeitsmarkt“ hÀnge auch von dieser Arbeitsmarktreform ab. Diese FehleinschÀtzungen sind nicht mehr zu begreifen. Wie soll aus der Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe oder aus der Absenkung der Zumutbarkeit mehr BeschÀftigung folgen? Glaubt man wirklich, dass durch Billiglöhne neue zukunftssichere ArbeitsplÀtze entstehen können?
Jetzt wird diese Reform „die gröÃte Sozialreform in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ genannt – wer so formuliert, sitzt im Berliner Bunker und hat die Proportionen verloren. Ob die Regierung noch merkt, dass sie ihre Kraft bei der Verwaltung des Mangels an Arbeit vergeudet statt fÃŒr neue Arbeit zu sorgen?
Auch die Riester-Rente ist ein Flop. Die beschlossene Verpflichtung, fÃŒr den Zahnersatz privat vorzusorgen, erweist sich als teures bÃŒrokratisches Monster. Beide Reformen wurden als notwendiger „Umbau des Sozialstaats“ verkauft. Das ist die gÀngige ReformlÃŒge.
Ich verstehe wirklich nicht, warum Du Dich in diese neoliberale Reformhatz hast treiben lassen. Die in der Ãffentlichkeit von den Reformeliten und auch von Dir genannten GrÃŒnde sind so dÃŒnn wie Wassersuppe. Zwei „zentrale Herausforderungen“ werden immer wieder genannt: Globalisierung und Alterung.
Die Globalisierung ist ein alter Hut. Schon 1913 war Deutschland schon so verwoben mit der Weltwirtschaft wie 1970. Seitdem hat sich die Verflechtung quantitativ verstÀrkt aber nie eine neue QualitÀt erreicht, die grundlegende Reformen und einen Systemwechsel verlangen wÃŒrde. Am deutlichsten wird das daran sichtbar, dass unser AuÃenhandel von der Globalisierung vor allem profitiert. 2003 erreichten wir einen LeistungsbilanzÃŒberschuss von 52,9 Milliarden US-Dollar, die USA hingegen ein dramatisches Defizit von 541,8 Milliarden. Die letzten Zahlen vom Juni zeigen, es geht so weiter: unser Export wuchs im Vergleich zu 2003 um 16,1, die Importe um 10,7 Prozent.
Die ReformbegrÃŒndung „Alterung“ ist Àhnlich dÃŒnn: Die Zahlen seit 1900 zeigen, dass die dramatischsten Alterungsprozesse zwischen 1900 und 1970 stattfanden. Seitdem ist es ein eher gemÀÃigter Prozess mit Aufs und Abs. Wie es weiter geht, wissen wir nicht ganz genau. Der Anteil der Ãlteren wird voraussichtlich zunehmen. Aber von wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass schon bei einem nur mÀÃigen ProduktivitÀtszuwachs unserer Volkswirtschaft von 1,5 Prozent bis in alle absehbare Zukunft (bis 2050) alle Gruppen – die wachsende Zahl der Alten, die Jungen und die arbeitende Generation – besser und zumindest gleich gestellt werden. Das ist einleuchtend, wenn man bedenkt, dass das reale Bruttoinlandsprodukt – also die GÃŒter und Dienstleistungen, die wir in einem Jahr erwirtschaften – in 2050 dann mindestens doppelt so groà sein wird wie heute. Angesichts dieser Zahlen einen Generationenkonflikt auszurufen und zu behaupten, die Alten lebten auf Kosten der Jungen, wie das von vielen Seiten geschieht, ist unverantwortlich. Dass die Bundesregierung Ãl ins Feuer dieses dummen unnötigen Konflikts gieÃt, verstehe ich nicht.
Also, die gelÀufigen BegrÃŒndungen fÃŒr die Strukturreformen – Alterung und Globalisierung – sind ÀuÃerst schwach. Ihre GlaubwÃŒrdigkeit folgt allein daraus, dass sie von allen Eliten nachgebetet werden.
Bundeskanzler Schröder werde als Reformer in die Geschichte eingehen, meint der SPD-Vorsitzende Franz MÌntefering. Ich fÌrchte, er tÀuscht sich. Wenn die Reformpolitik so weitergeht, dann wirst Du als jener Bundeskanzler in die Geschichte eingehen, der sich in unwirksamen Reformen verstrickt hat, statt die Wirtschaft zu beleben, der dabei das Vertrauen in den solidarischen Charakter unseres Gemeinwesens endgÌltig zerstörte und zugleich seinen möglichen Nachfolgern die Schleusen dafÌr öffnete, die Sozialstaatlichkeit vollends auszuhöhlen und so unsere Verfassung ungeniert zu brechen.
Mit der herzlichen Bitte, die Geschichte anders enden zu lassen,
Albrecht MÃŒller
riester
Seit Anfang 2005 gibt es eine weitere Form der staatlich subventionierten Altersvorsorge: Die so genannte Rup-Rente, benannt nach dem onomen
trackback am 29.09.06 12:29
Das ist ja mal ein trackback - du lieber gott. Wo kommt denn sowas her?
Kommentiert am 29.09.06 13:29